Positionierung der Liste Linker Aktiver
Mit der Schließung der Universität für fast zwei Jahre während der Coronapandemie hat an den Hochschulen auch eine Debatte über Online-Wahlen an Fahrt aufgenommen, zuletzt hat der Senat eine Umstellung sämtlicher Gremienwahlen auf Online-Wahlen beschlossen. Das Studierendenparlament hat dagegen bisher keine Satzungsänderung und keine Änderung der Wahlordnung vorgenommen und die studentischen Wahlen werden weiter in Präsenz stattfinden. Es ist falsch, dass Online-Wahlverfahren auch auf die studentischen Wahlen zu übertragen; stattdessen müssen auch die Gremienwahlen wieder in Präsenz stattfinden.
Die Studierendenschaft hat sich immer wieder für Präsenzwahlen ausgesprochen, weil nur so freie, gleiche und geheime Wahlen zu gewährleisten sind, hat deshalb in Zeiten der Coronapandemie eine Wahl faktisch ausgesetzt und diese Position zuletzt im Januar dieses Jahres bekräftigt. Auch der freie Zusammenschluss der Studierendenschaften (fzs) hat in diesem Sinne Beschlüsse gefasst. Diese Positionierung ist inhaltlich weiter aktuell, die Debatte ist neu aufgekommen, weil andere Mitgliedergruppen der Universität die Wahlen auf Online-Wahlen umstellen wollen und eine Vereinheitlichung für sinnvoll erachtet wurde.
Bedeutung der Wahlen
Die Gruppenuniversität, die demokratische Selbstverwaltung der Hochschule durch alle Mitgliedergruppen – Studierende, Kolleg*innen aus Technik und Verwaltung, wissenschaftliche Mitarbeitende und die Professor*innenenschaft – ist eine Errungenschaft der Kämpfe von 1968, die zentraler Bestandteil der Demokratisierung der Gesellschaft war. Dafür ist wesentlich, dass die jeweiligen Gruppen selbst überlegen und entscheiden, wie eine demokratische Wahl für die Gremien gewährleistet werden kann.
Selbstverwaltete Institutionen sind nach wie vor eine Ausnahme. Deshalb ist es nicht selbstverständlich, dass diese demokratische Errungenschaft wahrgenommen und mit Leben gefüllt wird.
Hochschulen haben den Zweck, Neues zu entwickeln, und können daher nur bottom-up funktionieren. Die erstrittene Hochschuldemokratie folgt in großen Teilen diesem Ansatz und trägt nur dann, wenn Demokratie nicht auf die Delegation von Verantwortung und Kritik an vorgelegten Vorschlägen verengt wird, sondern gemeinsam Entwicklungsverantwortung übernommen wird.
Eine solche Praxis ist nicht nur ungewohnt, sondern steht auch im Widerspruch zum gesellschaftlichen Mainstream, dass top-down-Management und feste einheitliche Regeln effizient und wünschenswert wäre. Des-halb müssen die Hochschulmitglieder immer wieder neu diese Errungenschaft erfassen, Verantwortung für die Demokratisierung der Gesellschaft übernehmen und die Praxis der bottom-up-Selbstverwaltung neu erlernen und eigenständig weiterentwickeln. Dies gelingt nur in Begegnung und Kontroverse.
Funktion von Wahlkampf und Stimmabgabe
Der Wahlkampf ist die zentrale Generaldebatte über die Grundausrichtung der Selbstverwaltung im kommenden Jahr. Die Stimmabgabe dient der Sicherung des Ergebnisses dieses Prozesses. Deshalb dient der Wahlkampf nicht lediglich der Information der Wähler*innen über ihre Optionen (die notfalls auch online erfolgen kann); vielmehr sind die Begegnung und Diskussionen im Wahlkampf selbst der Kern der Hochschuldemokratie. Die Selbstdarstellungen der Kandidierenden ist die Grundlage dieser Debatte; was sich wirklich in welchen Bündniskonstellationen realisiert wird, welche der 100 richtigen Forderungen tatsächlich wie verfolgt werden, ergibt sich aus der Kontroverse während des Wahlkampfes.
Eine Stimmabgabe ohne Beteiligung an diesem Prozess verfehlt den Sinn der Hochschuldemokratie, sämtliche Demokratisierungsambitionen müssen auf die Beteiligung an dieser Kontroverse gerichtet sein.
Die Urnenwahl ist von der Studierendenschaft so organisiert, dass alle Gruppen mehr oder weniger vor Ort präsent sind. Damit ist eröffnet, dass Gespräche und Diskussionen stattfinden – an Infotischen, aber auch mit anderen Studierenden, die an der Uni auf Flyer, Infotische, Plakate und Transpis stoßen und damit oft zum überhaupt ersten Mal die Hochschulen als demokratische Institution und politischen Raum erleben, der durch Studierende mitgestaltet wird bzw. werden kann. Erfahrbar wird damit auch, dass Demokratie keine selbstverständliche Service-Veranstaltung ist, sondern nur durch studentisches Engagement existiert. Finalisiert wird dieser Prozess mit der Stimmabgabe.
Online-Wahlen sind undemokratisch
Die Ermöglichung einer Stimmabgabe außerhalb von Wahlkabinen (und einer auf Ausnahmefälle begrenzten Stimmabgabe) verfehlt nicht nur die Funktion der Wahlen, weil sie den Wahlkampf vom Abstimmungsprozess entkoppelt und auf eine Abstimmung ohne Beteiligung an der öffentlichen Diskussion abzielt. Sie untergräbt auch eine demokratische Wahl:
- Sie wird dazu führen, dass die Wahlkabinen kaum genutzt und deshalb abgeschafft werden.
- Sie stellt prinzipiell das Wahlgeheimnis in Frage.
Die Wahlkabine gewährleistet, dass niemand meine Wahlentscheidung unmittelbar mitbekommen und überprüfen KANN. Bei Online-Wahlen habe ich die Möglichkeit, zusammen mit anderen zu wählen und es besteht die erhöhte Schwierigkeit, dass eine Wahlentscheidung bewusst oder unbewusst aus Gefälligkeitsgründen gefällt wird. - Dieses Problem einer geheimen Wahl ist im universitären Kontext verschärft, da die Gremienstruktur und das Wahlverfahren nicht öffentlich präsent und schwer zu durchschauen sind. Entsprechend wahrscheinlicher ist es, dass Online-Abstimmungen unter unmittelbarer „Hilfe“ von Aktiven von Hochschulgruppen, Fachschaften, etc. stattfinden.
Die Erfahrungen, wie sich Online-Wahlen auf die Wahlbeteiligung auswirken an anderen Hochschulen sind widersprüchlich, ein allgemeiner Zusammenhang, dass die Möglichkeit außerhalb von Wahlkabinen zu wählen die Wahlbeteiligung steigern würde, lässt sich nicht ab-leiten. Auf keinen Fall ist das eine Grundlage, die recht-fertigen würde, die systematischen demokratischen Probleme der Online-Wahlen in Kauf zu nehmen.
Lebendige Hochschule statt Verbannung ins Digitale
Die Coronapolitik hat Vereinzelung, Anonymisierung und Entpolitisierung deutlich verschärft, sind psychisch belastend und gesellschaftlich schädlich. Sie fördern das Gefühl, im Rad von Leistungsdruck und Konkurrenz in einer anonymisierten Hochschule der gesellschaftlichen Entwicklung ausgeliefert zu sein – so gedeihen Ressentiments, latente Aggressivität und rechtes Gedankengut.
Online-Wahlen verbessern nicht die Voraussetzungen dafür, dass Studierende, die verstrickt sind in wirtschaftliche Schwierigkeiten oder Einsamkeit, die mit Motivationsschwierigkeiten oder Diskriminierung kämpfen oder denen auf Grund von Behinderungen die Partizipation an der Uni erschwert wird, sich verstärkt an der Hochschuldemokratie beteiligen.
Die Stimmabgabe für Blinde lässt sich nach dem Vorbild anderer Wahlen einfach und konkret durch Wahlschablonen als Alternative zur jetzt schon bestehenden Möglichkeit, sich von den Wahlhelfer*innen unterstützen zu lassen, verbessern. Wichtiger aber ist, dass die Informationen zu den Wahlen, die Selbstdarstellungen etc., in konsequent screenreader-kompatibler Form und in Deutsch und Englisch zur Verfügung gestellt werden.
Für alle Studierenden entscheidend ist aber, die Hoch-schule als inklusiver Lebensraum und als Ort der Begegnung und politischen Kultur auch jenseits des Wahlkampfes zurück zu erkämpfen. Dazu gehören neben einem erheblich früheren Start des Wahlkampfes auch verbesserte Möglichkeiten, im Wahlkampf zu plakatieren, Transpis aufzuhängen und einen Bruch mit der alltäglichen Lernsilo-Kultur zu realisieren, nicht nur an den zentralen Orten der Uni, sondern in der Fläche.